Dass Frauen und Mädchen für Wissenschaft, Mathematik, logisches Denken, MINT- und STEM-Berufe etc. nicht weniger begabt als Männer und Jungs sind, ist seit Langem bekannt. Natürlich wurde das für Skeptiker mit reichlich Studien und Experimenten belegt. Das Gleiche gilt fürs Schach. Doch wieso gibt es nur eine einzige Frau in der Top-100-Liste der Welt? Wieso haben durchschnittlich Frauen eine viel niedrigere Elo-Zahl als Männer? Und was ist der Grund dafür, dass es für jede zehn Schachspieler in einem Verein mit viel Glück eine Schachspielerin gibt?
Die Rolle der FIDE
Alice Lee, Eline Roebers, Elisabeth Pähtz, Dinara Wagner, Aleksandra Goryiachkina, Alexandra Kosteniuk und Ju Wenjun sind nur einige der Spielerinnen, die jeweils in ihren Kategorien im Schach momentan Rekorde brechen. Dennoch hört und liest man in der Schachwelt von einem „Fehlen von Top-Weiblichen-Talenten“, einer „riesigen Kluft zwischen den Fähigkeiten von Frauen und Männern“, „Mädchen interessieren sich eben von Natur aus mehr für Blumenarrangements“, „Mädchen haben einfach nicht die Gehirne fürs Schach“, „Testosteron macht die Männlichen Schachspieler ehrgeiziger“.
Diese öffentlichen Äußerungen stammen von hochrangigen FIDE-Beschäftigten selbst. Die FIDE (Internationale Schachföderation) ist die Dachorganisation aller Schachverbände. Ihr eigenes Motto auf Lateinisch lautet Gens una sumus, was „Wir sind eine Familie“ bedeutet. Dieses nehmen sie nur mit Ausnahmen war. In ihrer Geschichte hat die FIDE das Frauenschach und allesamt weibliche Spielerinnen nicht nur bei der Festlegung von Preisgeldern, der öffentlichen Berichterstattung oder Aussagen bezüglich der weiblichen Fähigkeiten stark diskriminiert.
Entschlossen, der Ungleichbehandlung der Geschlechter im Schach (die von ihnen selbst in großen Teilen kam) entgegenzuwirken, rief die FIDE 2022 das Jahr der Frauen im Schach ins Leben – „The Year of Women in Chess“. Im Großen und Ganzen waren die angebotenen Veranstaltungen beliebt und erfolgreich, viel haben sie intern beim Weltverband aber nicht verändert. Die FIDE verbündete sich nämlich mit Saudi Arabien im Kampf um Gleichberechtigung und holte eine dubiose Brustimplantat-Firma als Hauptsponsor fürs Frauenschach ins Boot. Die offizielle Webseite der Frauenweltmeisterschaft 2023, in der die amtierende Weltmeisterin Ju Wenjun gegen ihre Freundin und Landesmitspielerin Lei Tingjie ihren Titel zu verteidigen suchte, wurde erst nach der ersten Partie des Wettkampfes online gebracht. So ein Verhalten wäre bei der (offenen) Weltmeisterschaft undenkbar gewesen. Da spielte man um 2.000.000 USD anstatt um 500.000 USD Preisgeld. Um die Unterrepräsentierung der Frauenweltmeisterschaft abzurunden, twitterte der FIDE CEO über seinen Skeptizismus gegenüber diesem Match.
Diese Zusammenfassung verdeutlicht den Stellenwert, den das Frauenschach und weibliche Spielerinnen für den Weltverband einnehmen.
Auch den professionellen Spielerinnen macht die FIDE die Karriere nicht leicht. So berichtet die deutsche Nummer eins, GM Elisabeth Pähtz, in einem Interview mit dem Schachmagazin ChessBase über das katastrophal gelaufene Grand Prix Turnier der Frauen in Indien. Die dort geltenden Bedingungen hätte man den männlichen Kollegen nie zugemutet. Das war auch der Grund dafür, dass eine der Top-Spielerinnen aus Protest das Turnier vor Beginn verließ.
Geschlechtertrennung bei Schachturnieren
Spielerinnen sind in der Schachwelt bei Weitem nicht so willkommen wie Spieler. Eine Teilnahme von einer Frau zu zehn Männern erklärt durchaus den sich ergebenden Leistungsunterschied. Besonders wenn man gleichzeitig in Betracht zieht, dass es im Schach offene Turniere und Frauenturniere gibt. Wieso gibt es diese Geschlechteruntertrennung überhaupt, wenn die gleichen Fähigkeiten vorhanden sind?
Der Grund ist ein historischer. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts waren Frauen überhaupt nicht in Schachklubs erwünscht. Dementsprechend wäre eine Geschichte – wie die von Beth Harmon im Damengambit – in der Realität überhaupt nicht möglich gewesen. Susan Polgar wurde zum Beispiel 1986 verboten, an der Weltmeisterschaft der „Männer“ teilzunehmen, als sie sich dafür regelkonform qualifiziert hatte. Der Grund: ihr Geschlecht passte den Spielern nicht. Lange Zeit waren also die Geschlechter im Schach aus gesellschaftlichen Gründen getrennt. Diese Trennung besteht heute immer noch. Einzelne Länder wie zum Beispiel Spanien haben diese Geschlechtertrennung bei Turnieren weitestgehend abgeschafft und sehen, wie das Schach davon profitiert. Andere Schachföderationen wollen dem Beispiel nicht folgen.
Sexismus und Diskriminierung im Schach
Ein weiterer schwerwiegender Grund, warum sich viele Frauen und Mädchen trotz der Möglichkeit in offenen Turnieren zu spielen, sich für die Frauen-Sektion entscheiden, ist ein aktuell großes Problem im Schach. Sexismus, verbale Diskriminierung bis hin zu sexuellen Belästigungen und Übergriffen ist allgegenwärtig.
WGM Jennifer Shahade wurde als Profi-Spielerin (wie viele andere bekannte Spielerinnen auch) selbst Opfer von schwerer sexueller Gewalt. Ihr Arbeitskollege GM Alejandro Ramirez attackierte sie zwei Mal, was sie dazu veranlasste, ihre Schachkarriere zu beenden und sich dem professionellen Poker zuzuwenden. Dies ist kein Einzelfall in der Schachwelt und die Handlungen von den Führungskräften der Organisationen sind in diesem Aspekt mangelhaft. Oft wird den Opfern nicht geglaubt und sogar bei Beweisen, wie in Shahades Fall, werden die Taten aus Bequemlichkeit ignoriert. Das hat zu Folge, dass die Opferzahl – worunter sich nicht selten Minderjährige befinden – weiterhin ohne Gegenwind steigt.
Ein weiteres Zeichen dafür, dass Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen im Schach definitiv das Interesse des Geschlechts am Sport verhindert, ist das zahlreiche Aussteigen der Spielerinnen in den Teenager-Jahren. Viele Frauen berichten darüber, dass sie zunehmend belästigt wurden, als sich ihre Körper anfingen zu entwickeln. Dies war und ist ein ausschlaggebender Grund dafür, mit dem Schach aufzuhören.
Berichterstattung über Schachspielerinnen
Es gilt auch zu erwähnen, dass talentierte Schachspielerinnen viel weniger Aufmerksamkeit in den Medien bekommen, als talentierte Spieler – unabhängig von der Spitzenqualität ihrer Partien.
Eines dieser Talente ist die Internationale Schachmeisterin Dinara Wagner. Ihre Partien standen mehrmals im Mittelpunk von Melanie Lubbes monatlicher Partieanalyse auf ihrem Youtube-Kanal. Erst kürzlich setzte Wagner ihre starke Erfolgsserie mit einem Turniersieg beim Sportland NRW-Cup fort. Sie erspielte sich nicht nur ihre letzte benötigte IM-Norm, sondern auch gleich ihre zweite GM-Norm und einen Elo-Zuwachs von 21 Punkten. Kurz danach gewann sie im Juli souverän die Deutsche Blitz-Einzelmeisterschaften der Frauen in Viernheim.
Solche Erfolgsgeschichten sollten noch viel stärker in den deutschen und internationalen Medien thematisiert werden, um den Spielerinnen die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken und Nachwuchsspielerinnen zu motivieren und inspirieren.
Geschlechterrollen und Vorurteile
Weitere Gründe für die niedrigen Beteiligungszahlen und den Leistungsunterschied der Geschlechter liegen in der Gesellschaft, in der man als Individuum groß wird. Der Erfolg von vielen Top-Spielerinnen zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass sie in der Familie eine sichere und wohlwollende Schach-Atmosphäre hatten. So erging es den Muzychuk-Schwestern, den Polgar-Schwestern, GM Elisabeth Pähtz etc.
Die Einstellung zu Geschlechterrollen und -Klischees spielen wie in jedem anderen Sport auch eine große Rolle. Wenn man als Elternteil nur seine Söhne dazu ermutig, Schach zu lernen und die Töchter zum Ballett schickt, nährt man das Feuer der Ungleichbehandlung der Geschlechter aktiv mit. Vorurteile, Unwissen und sogar Menstruationsmythen sind in der Schach-Szene noch allgegenwärtig. So liest man in „Chess Queens“ von Jenifer Shahade, dass viele Schachtrainer es als wichtig empfinden, zu wissen, wann ihre Spielerinnen menstruieren, denn dann verhalten sich die Frauen ja sowieso wie eine andere Person. Selbst Susan Polgar, eine der wichtigsten Schachspielerinnen der Geschichte, äußerte selbstsicher der US-amerikanischen Spielerin gegenüber, dass Frauen während ihrer Periode eine andere Eröffnung spielen sollten.
Fehlende finanzielle Unterstützung im Frauenschach
Auch die fehlende finanzielle Unterstützung und das mangelhafte Sponsoring fürs Frauenschach und Spielerinnen ist ein Problem, das zum Ungleichgewicht beiträgt. Hier wirkt zum Beispiel seit 2023 die Frauenkommission der Europäischen Schachunion mit finanziellen Mitteln dagegen -> siehe Beitrag über die finanzielle Unterstützung von Frauenturnieren. Das Elite-Turnier Norway Chess hat 2023 angekündigt, ein Frauenturnier mit gleicher Bezahlung wie das offene veranstalten zu wollen -> siehe Beitrag zu Gender Equality in Chess
Es gibt also immer wieder Bestrebungen für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter im Schach. Bis zur Erreichung dieses Ziels liegt aber noch ein weiter Weg vor uns.
Lasst uns daher gemeinsam für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion im Schachsport kämpfen und gegen Diskriminierung und Vorurteile vorgehen!
Weitere Beiträge zu dem Thema
- Beitrag über Hou Yifan, die ihren Weltmeisterin-Titel aus Protest gegen unfaire Geschlechterbehandlung im Schach aufgab
- Buchempfehlung „Chess Queens“ der US-Meisterin und Aktivistin Jennifer Shahade, die sich für Gleichberechtigung im Schach einsetzt
- Interview mit Dinara Wagner nach ihrem Sieg beim Sportland NRW Cup
- Bericht über die 16jährige Eline Roebers
- Abschlussbericht über die Weltmeisterschaft der Frauen im Schach 2023
- Spiegel-Beitrag über die Vorwürfe gegen Alejandro Ramirez
- FAZ-Beitrag über Sexismus im Schach